La Terra in Piazza

Die erde auf dem Platz. Eine Interpretation des Palio in Siena
- Autore: Alan Dundes – Alessandro Falassi
- Anno: 1994
- Formato: 16 x 24 cm.
- Pagine: 256 S., Abb.
- ISBN: 88-7145-048-5
Die erde auf dem Platz. Eine Interpretation des Palio in Siena
Zweimal in jedem Sommer laufen zehn Pferde etwa neunzig Sekunden lang im Galopp drei volle Runden im Uhr zeigersinn um die Piazza del Campo, den Haupt platz Sienas, der zu diesem Zweck in eine Pferde renn bahn ver wandelt wird. Die Pferde werden unge sattelt von Jockeys geritten, die in den Farben von zehn der siebzehn Cont raden, den Stadt teilen Sienas, antreten. Das Pferd, das als erstes ins Ziel geht, gewinnt ein langes recht eckiges Banner; es ist mit dem Bild der Jungfrau Maria bemalt. Sowohl das bemalte Banner als auch das Rennen selbst nennt man Palio.
Dem auf merk samen Beob achter ent geht nicht, daß sich dieses Rennen von sonst üblichen Pferde rennen in wesent lichen Punkten unter scheidet. An Besonder heiten fallen auf:
1. Das Rennen findet zu Ehren der Jungfrau Maria statt.
2. Zwar wechseln viele Milli onen Lire ihren Besitzer, aber es werden keine Wetten abge schlossen.
3. Der Sieger bekommt als Preis ein Banner aus Seidenstoff, doch der Sieg kostet ihn ein Ver mögen.
4. Die Ver lierer erhalten Geld, beklagen aber trotz dem ihr Unglück.
5. Das Pferd, das an zweiter Stelle ins Ziel geht, ist der eigent liche Ver lierer.
6. Der tradi tionelle Gegner des Siegerstadt teils gilt auch dann als geschlagen, wenn er am Rennen der zehn gar nicht teilgenommen hat.
7. Vor dem Rennen wird jedes Pferd in eine Kirche geführt und feier lich gesegnet.
8. In den Tagen unmittel bar vor dem Rennen werden die Jockeys Tag und Nacht über wacht und dürfen mit keinem außer ihren Leib wächtern sprechen.
9. Während des Rennens benutzen die Jockeys spezielle, aus den Geschlechts teilen von Kälbern gefertigte Reitgerten, im Italienischen nerbi genannt, mit denen sie ihre Pferde antreiben und sich auch gegen seitig schlagen.
10. Nach dem Rennen lutscht der Sieger am Schnul ler, die Ver lierer trinken ein Abführ mit tel.
Ein Reisender, der nur zufäl lig in den Tagen des Palio Siena besucht, bemerkt vielleicht manche dieser Besonder heiten gar nicht. Er sieht nur ein Pferde rennen in historischen Kostümen, noch dazu ein äußerst kurzes. Manch einer wird sich fragen, ob sich so viel Arbeit wirk lich aus zahlt – um bei spiels weise für die Renn piste eigens Erde aus dem Hinter land her bei zu schaffen oder um für die Zuschauer einen großen Tribünenring (die sogenannten palchi) auf zu bauen –, das alles für ein Ereig nis, das gerade andert halb Minuten dauert. Aber solche Besucher wissen ver mut lich nicht, daß der Palio gewiß nicht nur andert halb Minuten dauert; er findet das ganze Jahr über statt und begleitet die Bewohner Sienas, die alle Anteil an ihm nehmen, ihr ganzes Leben lang. Und wer auch nur einen Bruch teil der erstaun lich vielfältigen kulturellen Aspekte erfassen will, die beim Wett kampf um den Palio mit eine Rolle spielen, dem genügen gewiß nicht wenige Sekunden; er braucht dafür Tage, Monate, gar Jahre. Es ist sogar frag lich, ob ein ein zelner Mensch über haupt den Palio aus allen Blick winkeln ergründen kann, denn er ist eine uner schöpf lich reiche Quelle an Symbolen, meta phorischen Bildern und Inter ak tions mustern.
Sehr wahr schein lich liegt die jahr hundertealte Faszina tion des Palio zum Teil gerade darin begründet, daß er sich der Ein engung auf ein festes Regelsystem wider setzt. Ange sichts des wechselnden Zusammen spiels schicksals be dingter Gegeben heiten und mensch licher Ein griffe ist der Palio für die Sienesen sowohl ein bei spiel haftes Ver haltens modell als auch ein ent scheidendes Ventil ihrer Gefühls welt. Niemand kann sich Siena ohne den Palio vor stellen, und umge kehrt läßt sich der Palio außer halb des Sieneser Umfeldes nicht begreifen. In ihm spiegelt sich die ganze Seele der Stadt.
Bis heute sind die meisten Ver öffent lichungen über den Palio vor wiegend geschicht licher Natur. Es ging besonders darum, mög liche Ver bindungen zwischen dem Palio und älteren Formen städ tischer Spiele und Fest lich keiten zu erforschen. Dar über hin aus gibt es eine Vielzahl ober fläch licher Berichte von zufäl lig beim Palio anwesenden Besuchern Sienas. Es sind berühmte Schrift stel ler dar unter, wie Henry James, Ezra Pound und Aldous Huxley – Huxley lernte übrigens durch den Palio seine zweite Frau Laura kennen, die einen Film über den Palio drehen wollte und den Autor damals auf suchte, um ihn zu einem Drehbuch dafür zu über reden. Leider ent halten die meisten der besagten Reisebe richte gewichtige Fehler; offen bar haben ihre Ver fasser weder die Bedeutung noch den Geist des Palio begriffen. Beim Durch blättern solch grober Fehl interpre tationen finden wir Aus sagen wie:
“Das arme Tier! Man könnte in Zorn geraten, wenn man sieht, wie es sein Bestes gibt, gepeitscht und getreten vom Jockey, ver schreckt durch die Schläge auf Kopf und Hals von unsicht baren Feinden: Doch wir wissen ohne hin, daß die Italiener für Tiere gar keinen Sinn haben, sie ver körpern in einem Höchst maß den Mangel an fairem Sportsgeist.” (Anonym, The Siena races, 1899)
“Der fau lige Kern der Frucht, der diese bereits ganz ver dorben hatte, lag in der Anarchie dieses Rennens … weit schlimmer als die Bar barei der Renais sance, weil zumindest damals noch Regeln befolgt wurden – sofern ihre Miß achtung nicht vor teil hafter war – und nicht zugleich das gänz liche Fehlen von Normen und mangelnder Respekt vor dem Leben zu beob achten waren, die unweiger lich aus jedem Palio ein potentielles Massaker machen.” (Timothy Beaumont, Barbarians of Siena, 1970)
Von solch dilettantischen Berichten ein mal abge sehen, gab es jedoch auch andere Reisende, die die Bedeutung dieser ein ma ligen Manife sta tion mensch lichen Geistes sehr wohl erkannt haben:
“Der Palio von Siena wirkte auf mich wie ein Schmelz tiegel, in dem die vielen unzähl baren Bestand teile der italienischen Volks seele zusammen fließen. Es schien mir, als ob sich christ licher Glaube und Heiden tum, Kunst, Geschichte, Tugenden und Laster der Gesell schaft, gleich sam der Inbe griff des italienischen Wesens, harmonisch in einem ein zigen bemerkens werten Guß zusammen fügten.” (E.R.P. Vincent, The Italy of the Italians, 1927)
Das vor liegende Buch beschreibt den heutigen Palio aus ver schiedenen Blick winkeln und macht deut lich, auf welche Weise er im Siena des 20. Jahr hunderts als dominierende Lebens äußerung der Stadt fungiert. Zunächst geben wir einen Über blick über die geschicht lichen Ursprünge des Palio; es folgt ein Kapitel über das Wesen der Sieneser Stadt teile, da die Cont rada eine besondere gesell schafts politische Ein heit dar stellt, ohne die es den Palio in seiner jetzigen Form nicht gäbe. Dann wenden wir uns den Ereig nissen im Vor feld des Palio zu, beschäftigen uns mit der Aus wahl und Zuteilung der Pferde an die Cont raden sowie mit den geheimen, ver tragsähn lichen Absprachen, die die Stadt teile unter ein ander treffen. Der Ablauf des eigent lichen Palio-Tages, die Segnung des Pferdes in der Stadt teilkirche und der prächtige Fest zug in historischen Kostümen, der vier Stunden dauert, werden aus führ lich beschrieben. Ein ganzes Kapitel widmen wir dem Rennen selber. Mit der Frage nach dem Stellen wert des Palio im All tag der Sienesen und mit der Inter pre ta tion zahl reicher Varianten eines ein zigen Palio-Liedes schließen wir die beschreibenden, eth nographischen Teile des Buches ab. In einem Schlußkapitel ver suchen wir eine Inter pre ta tion des Palio mit Begriffen des Strukturalismus und Modellen des Symbolismus.
Es erscheint uns nahezu unmög lich, ein lebens frohes Fest voll bunter Kostüme, voll mensch licher Dramen und Emotionen, ein Fest alter Bräuche und Lieder auf die gedruckten Worte eines Buches zu reduzieren. Dennoch hoffen wir, auch Nicht-Sienesen eine Vor stellung davon ver mit teln zu können, was der Palio wirk lich ist, und zugleich deut lich zu machen, aus welchen Gründen die Bewohner Sienas immer wieder leiden schaft lich und mit so viel unver fälschter Begeisterung an ihm teilnehmen.